Das Wunder von Berlin

von Julia Devlin
in Fahrtenberichte
Es begann in Schweinfurt

Beim Wanderrudertreffen 2018 kamen Nicole Kofler und Hellmuth Nordwig mit den reizenden Ruderkameraden aus Berlin-Köpenick ins Gespräch, und es entstand die Idee, einmal dort zu rudern. Aus der Idee wurden wunderbare Tatsachen: Gemeinsam mit Edith Lambrecht und Marianne Krappatsch von Pro Sport Berlin 24 e.V. plante Nicole die mehrtägige Wanderrudertour über Himmelfahrt 2019. Und so fanden wir uns Ende Mai in Köpenick wieder. Wir durften die Herzlichkeit und Gastfreundschaft (einschließlich selbstgekochter Soljanka) des fabelhaften Rudervereins genießen. Wir durften in seinen schönen Klinkerbooten fahren, die ahnungsvolle Namen tragen wie Wendenschloss und Fichte. Mehr noch, wir wurden auf jeder Fahrt von ortskundigen Clubmitgliedern begleitet. Und das war auch gut so. Sonst hätten wir wohl öfter mal die richtige Abfahrt nicht gefunden. Denn das Revier ist: groß.

 

Wenn ein See schrumpft, öffnet sich ein neues Revier, oder wie heißt es so schön?

-Also, ihr rudert dann immer auf dem Starnberger See? Werde ich am ersten Abend von den Köpenicker Ruderkameraden gefragt. Wie lang ist der denn?

-20 Kilometer, sage ich.

-Aha? 20 Kilometer? Und da fahrt ihr dann so hin und her?

-Ja, aber wenn man alle Buchten ausfährt, bei einer großen Seeumrundung, kommt man auf über 40! sage ich stolz. Und euer Revier so?

-Ooch... wir rudern eigentlich immer bis Königs Wusterhausen, das ist unsere normale Mittwoch-Nachmittags-Fahrt. 30 Kilometer. Donnerstags rudern wir dann nur 25. Aber da gibt es die Märkische Umfahrt, da kann man 200 Kilometer rudern, ohne das gleiche Uferstück zweimal zu sehen. Das machen wir so einmal im Jahr, oder zweimal. Gleich hier vor der Haustür die Dahme runter. Ach ja, also 20 Kilometer ist euer See lang...

Mein schüchterner Einwand, dass er dafür 128 Meter tief sei, wird mit einem mitleidigen Lächeln quittiert und ich werde nicht zu Unrecht gefragt:

-Biste etwa een Taucher?

Ich hätte gewarnt sein müssen. Im Treppenaufgang unseres Gastgebers hängen die jährlichen Kilometerleistungen der Aktiven, die im Durchschnitt im höheren vierstelligen Bereich liegen. Nicht wenige haben die Schallmauer des Wanderruderns durchbrochen, die magische Zahl von 40.000 Kilometern errudert, und sind mit dem Äquatorpreis des DRV ausgezeichnet worden. Und um diese bewundernswerte Leistung zu erbringen, mussten sie vermutlich nicht ein einziges Mal ein Ruderboot auf einen Anhänger hieven.

Immerhin dürfen wir in die legendäre märkische Umfahrt hineinschnuppern. Sie beginnt ja gleich am Rudersteg von Pro Sport Berlin 24.

Der erste Tag: Olympischer Glanz

Hinter der Dahme die Lankwitz, hinter der Lankwitz der Zeuthener See, hinter dem Zeuthener See eine Schleuse und hinter der Schleuse... die große, wilde, ungezähmte Natur Brandenburgs.

Dorthin sind wir leider gar nicht erst gelangt, aber immerhin bis zu einem Teller Erbseneintopf im Ruderclub Königs Wusterhausen. Und für die Wagemutigen eine Berliner Weiße mit Schuss. Grün.

Und dabei durchfahren wir olympisches Gelände. Nur ein paar Ruderschläge von Pro Sport Berlin 24 entfernt befindet sich in einer Bucht der Dahme die Regattastrecke Berlin-Grünau. Dort gewann einst der deutsche Achter Olympia-Bronze. Natürlich lassen wir es uns nicht nehmen, uns in die Bahnen einzureihen und an der Zuschauertribüne entlang zu gleiten. Ach, die Vorstellung jubelnder Menschenmassen! 75.000 sollen es gewesen sein. Doch der Applaus ist längst verklungen, und sicherlich hat es Vorteile, dass das Publikum von 1936 nicht mehr seine Fähnchen schwingt.

Der zweite Tag:
Verschwundene Ruderclubs, legendäre Boote und die Käsemänner

Von der Vorstadtidylle Köpenicks geht es an Tag zwei ins Herz der Stadt bis zu den "Käsemännern", wie sich unsere Gastgeber untereinander verständigen. Wer sind diese Käsemänner, frage ich mich, stelle mir einen Laden darunter vor, in dem Männer Käse verkaufen, und vertraue im übrigen auf die gute Ortskenntnis unserer Gastgeber. So geht es den Teltowkanal nach Norden bis zu einer Schleuse, die nicht funktioniert, weswegen die Pläne geändert werden, und während wir auf die Schleusenöffnung warten, die nicht funktioniert, fallen die einzigen Regentropfen der gesamten Exkursion. Aber wie lautet die alte Ruderweisheit: Wenn sich ein Schleusentor nicht öffnet, schließt sich auch kein anderes. Also ändern wir die Route (ach, wie problemlos ist das in Berlin möglich) und nähern uns auf anderen Wasserwegen der Stadtmitte.

Neben den Realitäten visuell erfahrbarer Landkarten gibt es Parallelwelten. Einsicht in diese Parallelwelten wird nur Eingeweihten gewährt. Hier in Berlin entdecke ich eine solche. Ich rede nicht von Berliner Clans oder der russischen Mafia. Nein: Wie mit unsichtbare Fäden gesponnen breitet sich ein Netz über ganz Berlin. Es ist ein Netz, dessen silbrige Spuren nur einen Ruderschlag lang auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche sichtbar sind, aber man kann gewiss sein, diese Fäden sind stark wie Stahlseile. Sie spannen sich von Gatow nach Königs Wusterhausen, von Lankwitz und Schmöckwitz bis Köpenick, zum Wannsee und nach Werder. Ihre Knotenpunkte tragen verheißungsvolle Namen wie "Ägir", "Wilde Woge", "Wiking" oder auch mal, etwas sperriger, "Eisenbahn-Sportverein Schmöckwitz e. V.". Gesponnen durch gemeinsame Rudererlebnisse, legendäre Sternfahrten, unkomplizierte Gastfreundschaft, bierselige Feste und großzügiges Gewähren gegenseitiger Toilettenbenutzung. Auch wir durften an diesem Netzwerk teilhaben. Denn sind nicht auf geheimnisvolle Art alle Gewässer und die an ihren Ufern beheimateten Ruderclubs miteinander verbunden? Der Starnberger See mit der Würm, die Würm mit der Amper, mit der Isar, mit der Donau, und dem Schwarzen Meer? OK, die Europäische Wasserscheide ist ein starkes Argument gegen die direkte Wasserverbindung. Aber das Netzwerk kann auch Strecken über Land überbrücken. Dann muss man sich halt ein wenig mehr bemühen.

Einer der Knotenpunkte allseitiger Rudersolidarität ist ein verschwundenes Clubhaus, dessen aparte historisierende Formen nach der Wende einer Autobahn und einer Müllverbrennungsanlage weichen mussten. Der Club musste auf das gegenüberliegende Ufer ausweichen. Wir landen an und blicken auf den Ort, der mal war und nicht mehr ist, und lauschen den Berichten unserer Gastgeber von fröhlichen Festen, dröhnenden Bassrhythmen, zahllosen Zelten am Ufer und von Sternfahrten, die von dort ihren Ausgang nahmen. Panta rhei, panta rhei... Dann werfen wir einen Blick in das neue, von außen eher unscheinbare Clubhaus und es trifft uns der Schlag. Im überaus geschmackvollen repräsentativen Gastraum hängt überkopf unter der Decke ein Achter. Der Achter. Der Achter, der 1936 Olympia-Bronze gewann. Samt eingelegten Riemen. Ja, die Rudergesellschaft Wiking Berlin stellte seinerzeit das Nachwuchsteam, das sich 1936 überraschend gegen die ursprünglich favorisierte, dann aber schwächelnde Renngemeinschaft des DRV durchgesetzt hatte. An der Wand hängt ein großes Schwarzweißfoto der Recken in ebendiesem Boot. Rieck, Radach, Kuschke, Kaufmann, Völs, Loeckle, Hannemann, Schmidt, Mahlow, da sitzen sie, auf ewig jung, schön und durchtrainiert, auf dem Kabbelwasser der Dahme.

Aber viel Zeit, um sentimental zu werden, wird uns nicht gewährt. Es muss weitergehen, denn eigentlich sind wir nur zur Blasenentleerung mal kurz von der Galeere gelassen worden. Wir müssen weiter, zu den Käsemännern!

Berlin KäsemännerRudern hält einige Überraschungen bereit. Das liegt in der Natur der Sache, denn man fährt ja rückwärts und versteht so manches erst im Nachhinein, so die physische Platzierung von Bojen, die Manöver von Segelnovizen oder den Kurs entgegenkommender Vierer ohne. Auch die Käsemänner verstehen wir erst, als wir durchgefahren sind. Sie sind monumental, 30 Meter hoch und nicht aus Käse, sondern aus durchlöchertem Aluminium. Offiziell heißen sie molecule men und der Künstler, der sie erschuf, lässt uns mit dieser Erklärung ratlos zurück:

"Die Skulptur soll daran erinnern, dass sowohl der Mensch als auch die Moleküle in einer Welt der Wahrscheinlichkeit existieren und es das Ziel aller kreativen und geistigen Traditionen ist, Ganzheit und Einheit innerhalb der Welt zu finden.“ Danke, Jonathan Borofsky, und wir freuen uns alle, dass Aluminium mal sinnvollere Verwendung gefunden hat als nur Kaffeepulver zu umhüllen.

Der dritte Tag: Mit Fontane unterwegs

Allseits bekannt ist, dass Theodor Fontane durch die Mark Brandenburg gewandert ist. Dass er sich auch zu Wasser fortbewegt hat, weiß fast niemand, und doch sind einige der Kapitel seiner berühmten "Wanderungen" dem Wassersport gewidmet. Gerudert ist er zwar nicht, sondern gesegelt. Aber da dies in demselben Revier stattfand, in dem sich auch die Wanderruderer des MRC keine 150 Jahre später bewegten, werde ich es Fontane überlassen, den verehrten Lesern unseres Berichtes die Landschaft und ihren Charakter zu schildern. Denn wer könnte besser dieses Fleckchen Brandenburgs beschreiben?

An der Brücke von Köpenick treffen zwei Flüsse beinahe rechtwinklig zusammen: die eigentliche Spree und die Wendische Spree, letztere auch »die Dahme« geheißen. Die Wendische Spree, mehr noch als die eigentliche, bildet eine große Anzahl prächtiger Seeflächen, die durch einen dünnen Wasserfaden verbunden sind. Ein Befahren dieses Flusses bewegt sich also in Gegensätzen, und während eben noch haffartige Breiten passiert wurden, auf denen eine Seeschlacht geschlagen werden könnte, drängt sich das Boot eine Viertelstunde später durch so schmale Défilés, daß die Ruderstangen nach rechts und links hin die Ufer berühren. Und wie die Breite, so wechselt auch die Tiefe. An einer Stelle Erdtrichter und Krater, wo die Leine des Senkbleis den Dienst versagt, und gleich daneben Pfuhle und Tümpel, wo auch das flachgehendste Boot durch den Sumpfgrund fährt. 

Berlin SchmöckwitzJa, genauso ist es! Fontane hat vollkommen recht. Diese Tour ist wild, schön, abwechslungsreich und fordernd. Im Übrigen lässt er nicht ein gutes Wort an dem Müggelsee:

Die Müggel ist bös. Es ist, als wohnten noch die alten Heidengötter darin, deren Bilder einst die Hand der Mönche von den Müggelsbergen herab in den See warf. Die alten Mächte sind besiegt, aber nicht tot, und in der Dämmerstunde steigen sie herauf und denken, ihre Zeit sei wieder da.

Uns machen an diesem Tag weniger die alten Heidengötter zu schaffen, als die vielen Motorboote, deren Zahl und Fahrstil eine Herausforderung für die Steuerleute sind. Aber ja, der Wind ist auch nicht ohne:

Die Müggel ist das tückischste unter allen Wässern. Geradeso tückisch, wie sie unschuldig aussieht. Plötzlich springt ein Wind auf...

Als wir mit heiler Haut den Müggelsee verlassen und zum Dämeritzsee Richtung Erkner rudern, sind wir doch erleichtert. Erst recht, als es beim Ruderverein Wasserfreunde Erkner e.V. gekühltes Bier gibt. Aber auch der Seddinsee hat es in sich, den wir nach dem Gosener Kanal erreichen. Fontane war schon hier:

Wir befanden uns in Nähe jener haffartigen Stelle, wo sich, angesichts der Schmöckwitzer Brücke, vier über Kreuz gestellte Seeflächen: der Lange See, der Seddin-See, die Krampe und der Zeuthener See, ein Rendezvous geben.

Schluss: Die Botschaft der Käsemänner, wir hören sie

Wir haben an dem Abend, unserem letzten in Köpenick, auch noch ein Rendezvous, und zwar mit den Wilden Witwern. Sie geben im kleinsten Theater Berlins Schlager der Zwanziger Jahre zum Besten. Dabei offenbaren sich unsere Gastgeber als nicht nur im Rudern, sondern auch im Singen begabt. Nach der dritten Berliner Weißen (wir bleiben bei Grün) taucht kurz eine schemenhafte Erinnerung auf: war da nicht mal diese... innerdeutsche irgendwas? Und versinkt auch wieder sofort. Ganz im Sinne von Borofsky, dessen Käsemänner uns gemahnen wollten, dass die Menschheit Ganzheit und Einheit innerhalb der Welt erreichen soll. Käsemänner, wir sind ganz bei euch. Und das ist doch eigentlich: een janz jutet Jefühl.