Was eine Lahnfahrt über uns verrät: Wanderrudern im Mai 2016

in Rudern.

Eine Schiffsschleuse – für kleine Schiffe: Bootsschleuse –, kurz auch Schleuse genannt, ist ein Ingenieurbauwerk, das Wasserfahrzeugen ermöglicht, Niveauunterschiede zwischen zwei Abschnitten einer Wasserstraße zu überwinden. Ihr Kennzeichen ist eine zwischen den beiden Abschnitten angebrachte Kammer, die mit je einem Schleusentor sowohl nach oben (Oberwasser) als auch nach unten (Unterwasser) wasserdicht verschließbar ist.

Soweit Wikipedia. Wie leider so häufig, ist der Wikipedia-Artikel zwar informativ, aber oberflächlich. Für Leute, die bis dato lediglich auf oberbayerischen Binnenseen gerudert sind, und die auf der Wanderruderfahrt auf der Lahn das erste Mal Schleusenberührung hatten, bedeutet Schleuse viel mehr: Die Möglichkeit, viele andere Menschen in einer Extremsituation zu beobachten, die interessante soziologische Einblicke gewährt. Die Schleusenkammer als Skinner-Box für Wassersportler, sozusagen.

Da ist zum einen das reflexive, quasi evolutionär bedingte Einordnen in die wassersportliche Nahrungskette, sobald man durch die bergseitigen Schleusentore geglitten ist. Evidenzbasierte Studien haben erbracht: Kanadierfahrer stehen unter Kajakfahrern. Kajakfahrer stehen unter Ruderern. Ruderer stehen unter... eigentlich niemandem. Ok, einem feisten Motorboot würde man eventuell noch ausweichen, aber mehr aus Höflichkeit. Liegt nicht der IQ eines Ruderers über dem von Motorbootinsassen? Und sein Taillenumfang darunter? Also. Damit steht der Ruderer an der Spitze der Nahrungskette. Der Raubvogel unter den Wassersportlern, sozusagen. Ruderer zumindest wissen das.

Die Überlegenheit einer Spezies ist bekanntlicherweise auch dadurch gekennzeichnet, dass sie einen eigenen Code entwickelt, durch den sie die Zusammengehörigkeit der eigenen Gruppe nach innen stärkt, nach außen hingegen sich gegen andere abgrenzt. Ruderer im Schleusenverhalten verdeutlichen das mit lautem Rufen der durch ihre reichen Ausdrucksmöglichkeiten charakterisierten Ruder-Lingo. Mit einem lauten "Fahrwasser!" verweist man die anderen auf die ihnen zugedachten Plätze. Und alles stiebt auseinander. Sollte zumindest. Funktioniert nicht immer, denn gerade die Kanadierpopulation, insbesondere die mit mehreren Bierkästen an Bord, versteht nicht unbedingt die tiefere Bedeutung von "Fahrwasser". Geschweige denn von "Wahrschau". Da könnte man genauso gut gleich "Budapest" rufen.

Auch untereinander, d. h. innerhalb der Rudererpopulation kann man die Schleusenkammer nutzen, um die Nahrungskette zu festigen. An die Spitze der als Pyramide gedachten Hierarchie kann man gelangen, indem man sein spezifisches Wissen, das ja das Überleben und den Fortbestand der Art garantiert, großzügig an andere weitergibt. So lassen sich spezientypische Dialoge beobachten, wie sie ähnlich schon der große Soziologe Loriot beschrieben hat:

"Du sitzt auf dem Drempel!" "Ich sitze nicht auf dem Drempel!" "Doch, du sitzt auf dem Drempel." "Die gelbe Linie ist hier." "Das heißt gar nichts." "Bist du sicher, dass du nicht auf dem Drempel sitzt?" "Hier ist kein Drempel." "Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass du auf dem Drempel sitzt." "Drempel? Ist das auch für Veganer geeignet?"

Bis geklärt ist, ob Drempel essen kann, Nettigkeiten und Kekse mit dem Hund aus dem Kajak von nebenan ausgetauscht worden sind (auch Kajakfahrer sind schließlich nur Menschen, die sich freuen, wenn man ein freundliches Wort an sie richtet, und immerhin keine Kanadierfahrer), die Spezies im Großen und Ganzen ihr Fortbestehen und ihre Rangfolge gesichert hat, öffnen sich schon wieder mit archaischem Ächzen die talseitigen Schleusentore. Ein Schwarm aufgestauter Ruder- und Paddelboote ergießt sich in das Unterwasser, formiert sich neu und zieht rasch und elegant davon (sofern es sich um Ruderer handelt). Und weiter geht es die idyllische Lahn hinunter. Von Weilburg nach Limburg, von Limburg nach Nassau, von Nassau nach Lahnstein. Vorbei an stolzen Ritterburgen, romanischen Domen, pittoresken Fachwerkdörfchen, blühenden Heckenrosen und schnatternden Schwanenpärchen, die stolz den zahlreichen Nachwuchs spazierenschwimmen. Eine hübsche kleine Bahnlinie begleitet den Fluss, gelegentlich schwingt sich eine Stahlbrücke, Ingenieurskunst des neunzehnten Jahrhunderts, von Ufer zu Ufer. Hier ist die Welt noch in Ordnung, hier verstummt der Lärm der Straße, stattdessen rauschen dichte Laubwälder, naturbelassene Wiesen voller Blumen wiegen sich im Wind, und abends im Wirtshaus kostet die Halbe nur drei Euro.

"18 Uhr Schleuse Hollerich" lautet die Devise am vorletzten Abend. Ein Donnerwort. Denn in Hollerich steht eine magische Schleuse, die man erreicht haben muss, bevor das Sechs-Uhr-Läuten ertönt. Denn dann, so die Legende, lässt der Schleusenwärter den Griffel fallen, egal wie viele Wassersportler noch vor den Schleusentoren sitzen. Wir sind pünktlich da, aber ebenso pünktlich bricht ein Gewitter samt Platzregen los. Blitz und Donner direkt über uns, während sich Wassermassen in unsere Krägen und Boote ergießt. Wir stehen vor der Wahl, pünktlich in die Schleusenkammer hineinzufahren und dort möglicherweise vom Blitz erschlagen zu werden, oder die Boote zu evakuieren, im Starkregen das Gewitter abzuwarten und später drei Boote samt aufgeweichtem Gepäck um eine spätindustrielle Wehranlage zu tragen. Doch wie lautet Artikel 3 des Kölnischen Grundgesetzes (Köln=Heimatstadt unserer Reiseleitung): Et hätt noch emmer joot jejange. Also eilt erwähnte Reiseleitung zu dem mythenumwobenen Schleusenwärter, um ihm unsere Lage zu schildern und sein Herz zu erweichen. Und siehe da: Wir dürfen in Ruhe und vor Regen geschützt im Schleusenwärterhaus warten, bis das Gewitter weitergezogen ist (nicht der Regen) und werden auch noch um 18.30 Uhr geschleust.

Was will man mehr? fragt sich eine zufriedene, erschöpfte Ruderpopulation, die am dritten Tag mit Schwielen an den Händen drei Vierer+ in Lahnstein die Böschung hinaufzieht. Allerhöchstens, aber wirklich allerhöchstens noch ein Toilette, wenn möglich mit Wasserspülung. Eine Stunde nach uns landet eine Barke an, die wie wir morgens in Nassau gestartet ist. Die Besatzung hat, wie sich herausstellt, Moselwein vom Feinsten geladen. Beste Lage, bester Jahrgang, der auch an uns großzügig ausgeschenkt wird. Ansonsten sind die Binnenruderer aus dem bayerischen Oberland nach 98 Ruderkilometern und 18 Schleusen um etliche Erfahrungen reicher:

1. Schleusenfahren bildet. Was auch immer (Gemeinschaft?/Allgemeinwissen?/Grobmotorik?/Soziologische Strukturen?/Ergänze!).

2. Schiffstunnel! Es gibt sie tatsächlich.

3. Kekse zweiter Wahl sind super lecker. Auch in breiförmigem Aggregatszustand. Sofern sie aus Aachen kommen.

4. Ruderer sind die Krone der Wassersportschöpfung. Aber das war den meisten von uns ja schon vorher klar.

Vielen Dank an Stefan Heuer, erfahrener Lahn-Fahrer, der das Ganze so wunderbar organisiert und uns mit großer Gelassenheit und Expertise durch Schleusen, Tunnel und Gewitter gelotst hat.